Die Lippenstiftkrise

Ich habe ungelogen 2021 so wenig Lippenstift benutzt wie noch nie in meinem Leben. Zum einen trage ich diszipliniert eine FFP2 Maske sobald ich die Haustür verlasse, zum anderen habe ich am Schreibtisch alleine gar keine Muße dazu. Dabei war es der einzige Vorsatz 2022: Täglich Lippenstift.

Gestern ertappte ich mich wie ich nach einem Dupe für meinen geliebten, aufgebrauchten und nicht mehr erhältlichen Tom Ford Quiver gesucht habe. Mal wieder. Dabei trage ich kein Lippenstift?! Und ich bin da nicht alleine, die Lust auf Lippenstift ist (wieder) da.

Vielleicht ist es eine Reaktion auf den Frühling und auf Werbung: Der Beauty Markt wird massiv von Releases von… Lippenstiften dominiert! Völlig unverständlich, ist es gleichzeitig das Segment, das am meisten eingebrochen ist. Chanel bombt uns mit getönter Lippenpflege zu, die aber ziemlich stark pigmentiert ist, und Fenty bringt sogar den ersten Lippenstift der Marke raus.

Aus kaufmännischer Sicht ist das verständlich: Die Marke wird nirgends so stark transportiert, die Marge ist recht groß, und Lippenstifte werden immer gekauft und brauchen wenig Konkurrenz zu fürchten. Die meisten erschwinden laut Statistik in der Schublade, und wenn ich meine ansehe: JA.

Mein Markenzeichen sind rote Lippen, und ich habe dahingehend dennoch eine Sinnkrise. Ich stand doch tatsächlich neulich wieder etwas länger vor Lippenpflegestiften?! WER BIN ICH?!

#FOMO – Fear of missing out

Man kann aber auch alles pathologisieren – FOMO als psychische Krankheit ist der Krankenkasse sogar einen Beitrag wert. Dabei soll die Angst davor, etwas zu verpassen, zu Depressionen führen. Ich würde sagen, die Tatsache dass man nichts unternehmen kann oder unternimmt führt zu Depressionen. Die zwangsweise Beschäftigung mit dem Handy, oder wie es so schön im vorwurfsvollen Ton heißt: “DU bist handysüchtig!” kann tatsächlich eine Sucht sein. Mir wird das ständig vorgeworfen, was ich sehr belustigend finde, ist das Handy für mich ein Arbeitsgerät und weniger vergnüglich.

Die FOMO in meinem Fall ist real und nicht virtuell. Findet draußen ein Leben statt? Bin ich dank Homeoffice jetzt immer alleine und wechsle zwischen Schreibtisch und Behausungen – und das war’s? Die Pandemie und Infektionszahlen sind real, ich verpasse gar nichts, und virtuell wird oft genug bestätigt, dass Zuhause bleiben gerade das Nonplusultra ist.

Es bleibt ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, wenn ich an vollen Restaurants vorbei gehe, wenn ich mal zwangsweise das Haus verlasse. Mein Leben sieht nicht so aus. Verpasse ich etwas? Ich könnte… und dann erinnere ich mich daran, dass Information und Reflexion mir seit Beginn der Pandemie den Arsch gerettet haben. Keine Flugreise, obwohl ich könnte, keine Barbesuche, obwohl ich wollte, keine Spaziergänge an der Alster, kein Bahntrip in die Schweiz. Nix, nada, nothing, nüscht.

Vielleicht verpassen wir alle nichts, alle die nicht ins Kino gehen, die Zuhause kochen, die Netflix und chill machen, die nicht tindern, die nicht nach Dubai geflogen sind, die ihre Pediküre und Pflegemaske daheim machen, solange die Pandemie noch andauert (zwei Jahre prospektiv, yay, erschießt mich!).

Absolut wahllose Informationen

– Die Zeit des Sales hat begonnen. Wer jetzt Sachen nachkaufen will, wie Lieblingsjeans und Unterwäsche, sollte sich mit einer Liste hinsetzen und bestellen. Es ist sinnvoll, für das nächste Jahr Stiefel zu kaufen, zeitlose Stricksachen und Winteraccessoires, die vor Weihnachten zu teuer waren.

– Ich habe mich für einen schwarzen Toaster entschieden und freue mich total darüber! Dabei bin ich gar kein großer Brotesser, aber so wird ein schnelles Essen wie ein Sandwich doch noch was feines.

– In meinen Horoskopen steht, ich solle einen “Cleanse” machen, egal welcher Art. Da Fasten für mich nicht in Frage kommt, entschied ich mich, Menschen zu meiden LOL und das in einer Pandemie, wo man eh kaum Menschen trifft. Was soll ich sagen, es funktioniert hervorragend und ich wäre gerne die nächsten Monate in einem Kloster zum Schreiben und Lesen. Das ist leider so nicht möglich, ich würde ohne meine Kinder ohnehin eingehen, aber ich genieße es sehr, ein paar Tage alleine zu sein. Kochen, essen, schlafen, lesen, schreiben, und gelegentlich etwas bösartiges twittern ist schon komplett ausreichend für mich. Leider muss ich das Haus verlassen und Dinge wie “2 Dinkelbrötchen bitte” sagen, aber es ist okay.

– #regrettingmotherhood oder besser #regrettingparenthood bleibt ein großes, weiterhin unbeachtetes Thema, gerade und trotz der Pandemie.

– Kann ich eigentlich schwarzen Nagellack tragen, wenn ich eh schon komplett in Schwarz rumlaufe? Und warum habe ich eine weiße Jeans gekauft und weiße Bodys dazu? Tja, ich bin einfach inkonsequent in meiner “ich trage nur noch Schwarz” Nummer.

– Wann habt Ihr das letzte Mal ausgemistet? Tja. Mein Tipp: Eine Schublade nach der anderen, drei Stapel: Keep, weg damit, “mal sehen ob ich es vermisse/brauche”. Mir fällt es schwer, denn ich habe zu viel Kaschmir und zu viel teure Wäsche, da ist ausmisten immer sehr schmerzhaft.

– Die mega gehypte Creme von Instagram ist nett, aber nicht weltbewegend. Da es sich dabei um ein kleines Unternehmen handelt, ist das aber alles in allem ein gutes Produkt. Werde es vorstellen und hoffe, dass mir die Beauty-Bubble mit ihren 16 Produkten am Morgen und 30 am Abend nicht den Tod wünscht.

– Die britische Presse ist ja gut darin, mit Dreck um sich zu werfen, und hurra, Prinz Williams soll eine Affäre mit einer Frau haben, die seiner Frau erstaunlich ähnelt, und jeder wüsste es, aber es werde NICHT darüber gesprochen. Der ganze Skandal um seinen Bruder und Meghan habe von diesem Thema erfolgreich abgelenkt und hey, der Apfel fällt nicht weit vom Zaun. Warum sollte er kein Arschloch sein wie sein Vater? Wir wissen es nicht. Catherine als zukünftige Thronfolgerin hat jedenfalls die beste Strategie gewählt und sich das Gesicht ordentlich zurechtbotoxen lassen, ein heißes Kleid angezogen und damit ihrem Gatten leise und diskret den Fuckfinger gezeigt.

– Die Pandemie hat uns und den Alltag fest im Griff. Gerade deswegen bin ich so dankbar wie nie über sehr viele Dinge. Und was soll ich sagen, die Kinder machen es schwer zu ertragen, sie und wir haben kein Urlaub, es gibt keine tollen Aktivitäten und das schlechte Gewissen über deren langweiligen Alltag ist groß, aber ebendiese Kinder machen es auch wert, diesem Struggle mit maximaler Kraft zu begegnen. Andererseits, ist die FOMO (fear of missing out) etwas, was eher die Erwachsenen beschäftigt. Denn Kinder sind weit weniger anspruchsvoll, als wie denken oder eher als wir angehalten werden zu denken, des Konsums wegen. Beide haben Hobbies aufgenommen, was für ein Luxus, habe ich ein Hobby erst mit 40 realisieren können.

– Die Gala stellt immer wieder Photoreihen mit Schmuck zusammen. Bitte ignoriert die Texte über den Schmuck vollständig, sie sind zum Teil so falsch, dass es weh tut. Schmuck bleibt übrigens mein zweites Hobby, ich lese mich ein, um etwas fachkundiger zu werden. Härtegrad, Vorkommen und der damit verbundene Wert am Markt: Spannend. Obwohl ich Diamanten liebe, sind sie ein schlechtes Investment. Kauft Goldbarren und nicht gefasste Edelsteine als Wertanlage.

– Sich immer wieder neu erfinden ist großartig, sich selbst finden noch großartiger. Mir hat es sehr geholfen, mir vorzustellen wie ich zunächst einmal aussehen will, was ich trage, wie ich rumlaufe, was ich mache. Und dann gemerkt, dass meine innere Haltung dadurch zum Ausdruck kommt, und dass ich als Vorbild für Sichtbarkeit trotz Mittelmäßigkeit LOL durchaus eine “gute Figur” mache. Eine Aktivistin zu sein lehne ich ab, denn ich wäre wenn, eine Aktivistin gegen Armut, und das kommt ziemlich widersprüchlich, wenn man Schmuck für über zehn Tausend Euro trägt. Oder vielleicht nicht, weil es erst recht verpflichtet?! Weiß ich noch nicht. Jedenfalls bin ich herausragend darin, Social Media zu machen, und ich bin immer wieder erstaunt, wer mir alles auf Twitter folgt. Ich denke ich werde meine Rolex crowdfounden, als Gag, oder aber die Energie darin investieren, gegen Hartz4 und die damit einhergehende Kinderarmut vorzugehen.

– Ein Hamburger Politiker, neuerdings bekannt unter “Pimmel-Andy”, hat bei einem Twitter-User mit kleinen Kindern eine Razzia durchführen lassen. Um sechs Uhr morgens, ohne Ankündigung. Falls das irgend jemand an Gestapo-Methoden erinnert, ja. Das ist das Level, das wir derzeit politisch erreicht haben in Deutschland, und obwohl es nur eine kleine Gruppe an Faschisten gibt, sind sie leider sehr gut organisiert und haben ausreichend Schäfchen, die ihnen folgen. Derzeit sind sie als Pandemieleugner unterwegs, demnächst ist es was anderes, aber spätestens nachdem in Hanau eine Gruppe Menschen regelrecht geschlachtet wurde (gesperrte Notausgänge, Notruf nicht erreichbar) sollte wir uns alle mal Gedanken machen, was wir in unserem Umfeld sehen und dann auch aktiv agieren.

– Das Private bleibt politisch. Jede Person, die sichtbar ist, trägt eine Botschaft hinaus, und diese sollte besser eine gute sein, egal wie trivial sie scheint.