Radikale Akzeptanz statt toxische Positivität

Die letzte Woche war hart.

Dazu kam noch ein Gespräch mit einer langjährigen Freundin, die sich mal wieder unterm Messer legt. Ob ich mitkommen wolle, ich könnte dann ja auch was machen lassen. Das hätte mich sicher beleidigen müssen, aber ich lachte und sagte, frag mich in fünf Jahren nochmal. Trotzdem – es hat mich nachdenklich gemacht. Es ist so einfach geworden: Mit Shortcuts zum Ergebnis. Alles geht. Shortcuts sind käuflich zu erwerben. Nichts ist mehr anstrengend, Schmerzen lassen sich wegkaufen. Davor lassen sich Falten weglasern, lässt sich Gewebe wegsaugen, das Gehirn mit fünf Sprachen im Schlaf optimieren, die Zähen bleichen. Und das Lächeln nicht vergessen! Lächeln, lächeln, lächeln. Und vor dem Schlafengehen noch eine optimierende Gesichtsmassage.

Und für Frauen, besonders für Frauen, gilt: Selbstliebe! Glücklich sein! Glänzende Haare haben! Lächle Dich positiv! Negative Gedanken machen Zornesfalten! Liebe Deine grauen Haare, aber nur wenn Du unter 35 bist! Liebe Deine Speckröllchen, aber nur bis Größe 38! Starte mit Affirmationen in den Tag! Lächle, Du arbeitest schlecht unbezahlt aber für einen guten Zweck!

Der Shortcut zum Glück: Toxische Positivität.
Und, brought you by Patriarchy dot com – internalisierte Misogynie, die besagt, wie Frauen zu sein haben. Glücklich, makellos, äußerlich UND innerlich aufgeräumt und schön, aber nicht ZU schön, das macht ja wieder Männern Angst weil unerreichbar/bitchy/… wie heißt es so schön? Es gibt keine gute Zeit für Frauen, erst sind sie zu jung, danach sind sie zu alt – die einzige richtige Zeit für eine Frau ist, ein Mann zu sein. Ich würde gerne über diesen Spruch lachen, wenn ich nicht bereits weinend kotzen würde.

Schon wieder diese Polemik und negativen Vibes! Und das mitten in einer Pandemie! DARF SIE DAS?

Darf ich breitbeinig sitzen, obwohl ich auch duchess slant kann? Darf ich kurze Haare haben, obwohl ich mich langsam verstecken müsste? Darf ich mich bitte angemessen kleiden, statt sexy, jugendlich, modisch, selbstbewußt, fashionable? Darf ich mich toll finden, wenn auch nicht optimal? Darf ich bitte Falten haben? Darf ich schlechte Laune haben? Darf ich schlicht und einfach nicht schön sein, nein auch nicht liebenswert, sondern wütend, polemisch und das sogar ohne Nagellack auf den Füßen? Darf ich es nicht dem Mann recht machen, der mich anglotzt, der Frau die sich mit mir mißt, und darf ich, ja darf ich einfach MICH NICHT SELBST LIEBEN? Darf ich Dinge tun, die nicht people pleasing sind, sondern pragmatischerweise meine Lebenserhaltungsfunktionen verbessern? Darf ich meine Mittelmäßigkeit und Erfolgslosigkeit kennen und dennoch streben? Darf ich mich nicht mehr fragen, ob ich darf?

Was sich in der scheinbar trivialen äußeren Hülle befindet, die der Erdanziehungskraft nachgibt LOL, ist genauso ein Hinweis auf die innere Haltung. So wie das Private politisch ist, ist das Äußere, oh Wunder, gleichsam dem inneren Kern. Avocadokerne kann man essen; Steinobstkerne hingegen nicht. Statt alles nach außen zu richten, statt alles zu übertünchen, zu lügen und sich der Realität zu verweigern, ist radikal seine Realität zu akzeptieren echt krasser Scheiß.

Oh, und beileibe ist das kein Appell, das Äußere zu vernachlässigen, aber dann bitte mit Sinn und Verstand. Was Männer ästhetisch an Beleidigung fürs Augapfel bieten ist ja das andere Extrem… ich meine, wenn wir kostenlos Menstruationshygiene bekommen, sollen sie gerne kostenlos eine Nagelschere und Haarschneidemaschine ihr eigen nennen dürfen. >:-(

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