Zusammenfassung für Eilige:
Wir haben Queerness, Klimapolitik, mehrere weibliche Hauptfiguren für den Feminismus, Kinderrechte, und das Thema des Willkomen geheißen werden, ein Willkommen für diese Themen und an die Menschen, die mit diesen Themen zu tun haben, nämlich uns allen.
Für Sie, für Euch, für ALLE… das Wort “alle” steht nicht umsonst im Mittelpunkt. Erinnerte mich natürlich an dem biblischen Zitat “Die Letzten werden die Ersten sein”, eine passende Dichotomie zum ursprünglich religiösen Motivs eines Oratoriums, wobei Schumanns “Das Paradies und die Peri” keine Oper, sondern ein weltliches und somit nicht-kirchliches Oratorium ist.
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Also!
Willkommen!
Willkommen in der neuen Ära der Hamburger Staatsoper, geführt von Tobias Kratzer als Intendant und Omer Meir Wellber als Generalmusikdirektor.
Genau um dieses Willkommen sein geht es in Schumanns Nicht-Oper, nämlich eine aus dem Paradies Gefallene wieder willkommen zu heißen, allerdings nicht ohne ein bisschen Arbeit. In diesem Falle Arbeit der Hauptfigur Peri und Arbeit der beteiligten Künstler*innen und gesamten Teams des Hauses, inklusive der Verwaltung im Hintergrund, die undankbarerweise unsichtbar und ohne Wertschätzung agiert.
Die Auswahl der Nicht-Oper #dasparadiesunddieperi, genauer des nicht-kirchlichen Oratoriums, noch genauer des musikalischen Theaterstücks, ist ein Marketingsstreich, den ich genial nennen muss.
Denn es geht heute schon lange nicht mehr um die künstlerische Leistung, falls es überhaupt jemals so war. Kunst war, ist und bleibt politisch. Und in Hamburg geht es heuer um eine neue Art der Vermarktung und Inszenierung des elitären und in Deutschland klassistischen Kulturzweigs Oper, und somit um das Geld, das die Oper einspielen soll.
FÜR SIE, FÜR EUCH, FÜR ALLE – das ist das neue Motto der Hamburger Staatsoper und damit verbunden die neue Ausrichtung. Angefangen mit einer neu aufgestellten Social Media Abteilung (sehr gute Arbeit, Chapeau!), gefolgt von politisch-kritischen und sehr deutlichen Anspielungen in der Bildsprache, sowie eine optische Verjüngungskur der Corporate Identity, will Kratzer vor allem ein junges und diverses Publikum anziehen. Warum? Die, die heute mit günstigen Tickets in die Oper gehen, sind die, die später die teuren Tickets kaufen. Er spricht sogar Eltern an, sehr klug. Das ist natürlich der betriebswirtschaftliche Aspekt, und den darf ein Intendant nicht vernachlässigen. Darüber hinaus ist sichtbar viel Herzblut in die künstlerische Arbeit geflossen, das wird man ohnehin explizit goutieren.
Zusätzlich stellt sich die Oper weniger konservativ und nahbarer dar, durch Afterpartys mit DJs und eine dreitätige Eröffnungsparty, zu der auch die Premiere mit eigenem Hashtag #dasparadiesunddieperi gehört. Dazu gab es in Hmaburg eine Flut bunter Plakate mit Personen, in denen sich das Publikum wiederfinden soll. Das Plakat mit einer Schwarzen Dragqueen war auch richtig schön catchy.
Nur das neue Logo verstehe ich nicht, wobei es mir gefällt und symbolisch was hergibt, aber ich will mich an dieser Stelle nicht zu weit aus meinem Semeiotik-Fenster lehnen.
Von alldem oben genannten lasse ich mich bedingt blenden, dafür war ich selbst zu lange im politischen Marketing, und hinterfrage einige Dinge*, doch ich kann Respekt zollen, wem Respekt gebührt. Tobias! Chapeau! Sollten dich die alteingesessenen Kritiker NICHT feiern, dann hast Du erst recht alles richtig gemacht.
Und damit kommen wir zum Stück. Hier kann ich ein bisschen besser erläutern, was genau der Marketingplot ist und welche politischen Botschaften gesendet werden. Eine Sache im ersten Teil muss ich unterschlagen, die sonst ein Spoiler wäre. Selber hingehen! Ich hoffe, das Geheimnis bleibt gewahrt.
Vorweg: Es gibt besser lesbare Übertitel als vorher, und sie sind ohne Rechtschreibfehler. Ja, das mit der richtigen Rechtschreibung ist ein Novum.
Das Stück geht 90 Minuten ohne Pause und ist in drei Teilen aufgeteilt, weil die Hauptfigur Peri (wer hier an Perimenopause gedacht hat lol) drei Versuche hat, wieder ins Paradies zu kommen, wofür sie drei Gaben benötigt, quasi eine Art Quest. Das Libretto muss man vorher nicht kennen, denn die Inszenierung ist selbsterklärend, zuweilen lustig bis bösartig deutlich.
Die Inszenierung ist modern und interaktiv, das ist zwar nicht neu, aber es hat das Publikum begeistert. Nein, ich erzähle nicht mehr. Nichts, wovor man Angst haben muss, wobei man in den ersten Reihen eventuell gegen Ende ein wenig überrascht wird: Die Sopranistin Vera-Lotte Boecker, die gesanglich gut, schauspielerisch top ist, wird sich in den Zuschauerraum auf etwas, sagen wir mal, abenteuerliche Weise begeben. Es sind alle Künstler*innen versichert, trotzdem hatte ich in bisschen Herzklopfen.
Das Bühnenbild ist modern, eine schlichte Symbolsprache, und das ist eine gute Sache, wenn man jüngeres Publikum anziehen will, aber auch die ältere Klientel bei Stange halten muss. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Die Schlachtszene mit schön viel Theaterblut, die “das Volk” wegmachen muss, die Anspielung auf die Klimakrise, welche die Nachwelt für uns und unsere Kinder zerstören wird, mit allerliebsten kleinen Statist*innen, die in einer Kuppel spielen, um dann in Abgase zu verschwinden (Trockeneis nehme ich an).
Diese Anspielung ist übrigens der Knaller und der Gag der ganzen Geschichte: Die Peri geht zu einem alten weißen Mann aka typischen Boomer im Zuschauerraum, ich weiß nicht ob es ein Gast oder ein Statist ist, und klaut ihm die letzte Träne,
die letzte Gabe, die Träne eines Greises, der beim Anblick eines Kindes seine eigenen Lebenssünden bitterlich bereut,
während im Hintergrund die spielenden Kinder an Abgasen ersticken. Die Boomer sind schuld an der Klimakrise, no news here, wir wissen davon seit den siebziger Jahren. Und ich nutze explizit das Wort Abgase, weil das Wort Gas im Kontext eines israelischen Dirigenten widerlich wäre. Wenn hier ein Zusammenhang gewollt ist und auf den heutigen, wiedererstarkten Antisemitismus anspielen soll, dann noch mehr Chapeau von meiner Seite.
Klimakritik, dazu Boomer abgesägt, das gefällt den jungen Leuten! Und der Engel, der immer wieder auftritt und mit einem Countertenor besetzt ist, und damit ein bisschen Queerness reinbringt – mega.
Wir haben Queerness, Klimapolitik, mehrere weibliche Hauptfiguren für den Feminismus, wobei die immer da sind, überhaupt das Thema Kinder, und das WILLKOMMEN geheißen werden. Ein Willkommen für diese Themen und damit für uns alle, weil es uns alle betrifft.
Für Sie, für Euch, für alle… das Wort “alle” steht meines Erachtens im eigentlichen Mittelpunkt. Die Oper ist für alle. Alle, die das Geld dafür aufbringen könne, das ist leider immer noch so eine Sache. Kunst sollte allen und im Original zugänglich sein, sagte Humboldt, naja, lang’ ist’s her mit dem Bildungsideal.
Hier ist die Marketingvorlesung zuende.
Badummtsss.
Die Hauptfiguren liefern, kann man nicht anders sagen, wobei der Tenor Kai Kluge zwar sympathisch ist, mich persönlich gesanglich nicht ganz abholt. Allerdings liebt das Publikum ihn! Christoph Pohl als Bariton liefert gekonnt ab, er wirkt immer lässig und routiniert. Wenn der mal in Sachen Souveranität coachen würde, das würde laufen wie geschmiert Brot. Der wirkt auf der Bühne wie ein Fisch im Wasser.
Der Chor muss seltsame Sachen machen wie putzen und dabei singen, technisch glaube ich nicht ganz einfach, wenn man da rumliegt, es gibt ja einen Grund warum man im Stehen sprechen oder singen soll. Ein bisschen aus dem Tritt an einer Stelle, aber das ist sicherlich tagesformabhängig. Der Damenchor schwächelt interessanterweise auch an einer Stelle, was mich sehr wundert, weil die sonst top sind. Konzertante Aufführungen zeigen sehr gut, was die Chöre können, deswegen kann ich überhaupt einen Vergleich ziehen. Auch beim Chor gibt es eine neue Leitung mit der sympathischen Italienerin Alice Meregaglia und es muss sich wohl erstmal alles einspielen: in bocca al lupo!
Alles in allem war ich begeistert und das Publikum auch, es gab den gefühlt längsten Applaus aller Zeiten (Kontext: Generalprobe). Und ja, es ist keine “richtige” Oper, und ja, das Ganze ist nicht primär musikalisch ausgerichtet. Diese Kritik ist valide und berechtigt, und dieser hat man geschickterweise auf der Homepage vorgegriffen.
FAZIT: Es ist ein guter und klug ausgewählter Auftakt, musikalisch schön und klassisch genug, um dem Ursprung der Hamburger Staatsoper als erste Oper Deutschlands Respekt zu zollen, szenisch interessant und mutig, in einem modernen und energiegeladenen, neuen Rahmen.
P.S. und berufliche Nebenbemerkung als Personal Stylist: Ich finde Tobias Kratzer einen äußerst schicken Typen, der in Glamour-Hipster-look rumläuft, inklusive keck geöffneten Hemd und sich in *strike a pose* Posen für Bilder werfen. You go girl!
* Wird die Oper nun den wohlhabenden Hipstern gehören, also den Erb*innen der Boomer? Werden wir dort ein überwiegend weißes, wohlhabendes, männliches, halt queeres Publikum haben und ist das wirklich Diversität? Ist die Schwarze Dragqueen Diversity-Washing bzw.pink washing? Wird es mehr Angebote für Kinder geben? Ist es geplant, etwas mehr Flagge gegen den Faschismus zu zeigen, denn jemand wie Spahn zeigt dass schwule Männer faschistisch sein können und nur pro Queerness einzutreten nicht ausreicht? (Spahn ist nicht queer btw) Marketing ist wichtig und Mittel zum Zweck, but are you gonna walk the talk?