Was passiert, wenn Schönheit nicht mehr relevant ist?

Ich verbringe ganz klar zu viel Zeit auf Instagram – eine Parallelwelt. Schöne Menschen, schöne Kleider, schöne Reisen, alles ist… schön.
Geleckt schön, gephotoshoped schön, und “im Studio mit Ringlicht”-schön, oh und unter 30 Jahre alt-schön. Das ist dem Medium geschuldet, wer lesen kann ist dann doch eher auf Twitter.
Als ich durch die kleine Vorstadt lief, in der ich wohne, an einem für Pandemien viel zu vollen Samstag, wurde mir erstaunt bewusst dass Menschen so nicht aussehen, dass sie eher graubraun sind, dass sie häufig zu stark geschminkt sind, und vor allem: Nicht fröhlich. Ich drehte buchstäblich eine Runde, mied sämtliche Geschäfte, kam mir fehl am Platze vor in meiner “für Instagram-Adreea langweiligen Kleidung aber immer noch too much für die Vorstadt”, und verpasste den kurzen Augenblick einen sehr süßen Typen zurückanzuflirten, der ebenfalls mit Brille und Mütze rumlief.

Beauty war mein Thema auf dem Blog ganze 15 Jahre lang, aber es drehte sich dabei für mich mehr um den Spaßfaktor: Schminken als Technik, als abwaschbarer Ausdruck seines Selbst, viel einfacher verfügbar als teure Kleidung und tolle Accessoires. Und es ging um meine sehr unperfekte Haut, was ich aufgab, als ich verstand dass ich nicht hässlich bin, sondern lediglich zwei ärgerliche, aber nicht gefährliche Krankheitsbilder aufeinander trafen. Ich verzichtete und verzichte bis heute auf Tonnen Schminke, Beleuchtung und Retusche, weil ich als ehrlich empfinde. Ich muss damit klarkommen, was ich da sehe.

Und neulich stand ich vor dem Spiegel und hatte ein Kleid vom Dachboden an, das ich ungelogen mit 26 gekauft und getragen habe: Ein Lanvin-Verschnitt aus gefältelter Seide in maigrün, mit hauchdünnen Trägern, perfekt geschnitten und sehr schön auf gebräunter Haut. Das Kleid passt wie angegossen und ich musste feststellen, dass ich nie einen besseren Body hatte. Schlanke Beine, perfekte Arme und Schulterpartie, knackiger Arsch und flacher Bauch.
Hatte ich das die ganze Zeit, nur hatte ich es selbst nie gesehen?

Ich habe endlich wirklich gute Haut, den perfekten Body, einen guten Haarschnitt ohne graue Haare sogar, und bin 42. Und ich drehte mich vor dem Spiegel und dachte, wow, ich habe alles erreicht, was man an oberflächlichen Scheiss von Frauen erwartet, und… es langweilt mich.

Schönheit, wurde uns eingetrichtert, ist das Kapital, das wir Frauen haben. Reine Biologie, denn körperliche Attraktivität macht sich auf den Heiratsmarkt bezahlt, im Job auch, und so entstand schon vor langer Zeit eine komplette Milliarden-Industrie, die uns Cellulite-Cremes verkauft (haben Männer auch, aber habt Ihr schon mal Bodylotion gesehen, die Männerbäuche strafft?!), minimal-invasive Eingriffe zur Routine erklärt, und Schönheitschirurgie als Äquivalent zur Designer-Handtasche verkauft. Während die Handtaschen altern und brüchig werden, dürfen Frauen das nicht, wir sollen schön bleiben.
Die Botox-Angebote findet man in jeder guten Arztpraxis, kleine Besenreisser kann man super im Winter entfernen lassen sagen mir Werbebanner (WTF ich hatte das schon immer, das ist einfach dünne Haut!) und die 120 Euro Creme verspricht einen Lifting-Effekt und Ankurbelung der Kollagenproduktion. Völliger Unsinn, natürlich.

Also, angenommen wir werden zwischen 80 und 100 Jahre alt, dann beginnt so ab 40-50 eine Wandlung der äußeren Schönheit, und auch erste körperliche Anzeichen von Verfall aka Krankheiten zeigen sich. Schönheit wird also als Attribut eines bestimmten Alters betrachtet, und man merkt, es fehlen auf einmal die Gesichter jenseits dieser normativen Schönheit. Ein paar männliche Promis dürfen noch rumtingeln, weibliche Promis kommen in die Zeitung mit dem Attribut: “OMG sie ist jetzt schon 52 und sieht so bombig aus!” Junge Promis sehen hingegen viel älter aus, als sie eigentlich sind, was auch irre ist, und häufig verbraucht. Der Preis für Berühmtheit ist verdammt hoch, das muss man sich immer wieder vor Augen führen.

Dass “Schönheit” auf einmal durch das “schön gemacht” entwertet wird, ist irgendwie tragisch. Geliftet, gebotoxt, geschminkt, und das gilt auch für Männer, karikiert sich Schönheit durch die Schönheitsindustrie- und chirurgie selber. Soll man nun “in Würde altern”? Soll man versuchen, das Beste aus sich rauszuholen, zumindest die Leute, die damit Geld verdienen? Oder ist das einfach zu anstrengend? Und was bedeutet das für den Schönheitsbegriff, in einer Gesellschaft, die neben einer Pandemie noch vor etwas anderem kräftig die Augen verschließt – der Altersdurchschnitt der Bevölkerung wird immer höher, der Babyboom bleibt aus, wir haben nirgends in Sachen Zugang und Barrierefreiheit vorgesorgt, ausser mit dicken Autos mit Assistenten, für Leute die eigentlich nicht mehr fahren dürften.

Was passiert also, wenn “schön sein” gar nicht mehr das Ding de jour ist , sondern etwas ganz anderes? Nun, auch das wird auf Instagram derzeit ersichtlich: Sei schön und GESUND. Das ist immerhin nachvollziehbar, führt aber auch gerne zu Extremen wie Essstörungen und Sportsucht und allgemeine absolute Obsession mit der eigenen Gesundheit. Keto-Diät, Nahrungsergäzungsmittel, Personal Training, Klamotten, eine neue Industrie boomt.
Alles in Maßen, Leute. Sowohl Sport als auch eine Tüte Chips. (Personal Training macht definitiv Sinn, guckt Euch aber die Leute gründlich an, ob sie wirklich wissen, was sie tun.)

Also, was passiert für einen selbst, wenn die eigene Schönheit und das Abarbeiten an seinem Äußeren auf einmal nicht mehr relevant ist? Ich fürchte, dann beginnt die eigentliche Arbeit.

Coachings haben einen Zulauf wie noch nie, und es ist eine Mischung aus Einsicht und Optimierungsbesessenheit. Letzteres ist problematisch, denn schließlich sollte die Auseinandersetzung mit sich selbst auch Freude bereiten, und einem dienen, aber Dich nicht regelrecht verfolgen. Ob ich meinen Kleidungsstil endlich eingetütet habe, meine Organisationsstruktur im Griff habe, es sind Dinge, die den Alltag erleichtern sollen und wenn sie von der imaginären To-Do Liste weg sind, erst nachhaltig wirken und einem das kostbarste Gut der Welt kaufen: Zeit.

Was passiert also, wenn Schönheit nicht mehr relevant ist? Man hat Zeit!! Zeit für Spaß. Zeit für Einsichten. Zeit für “Erfolg”. Zeit für zwischenmenschliche Beziehungen. Zeit für Werte. Zeit für echte, beständige Schönheit.

Klingt gruselig und total eso, ich würde jetzt mich SOFORT über “so’n Scheiß” lustig machen, aber fun fact, wenn ich sage, Schönheit kommt von innen, ergänze ich pragmatischerweise auch:
Es kann nicht schaden, wenn man ein bisschen nachhilft.

Um die Frage nicht abschließend, aber zumindest ein bisschen zu beantworten: Schönheit wird nicht irrelevant, sie wird anders. Es ist wie Kleidung: Nicht mehr der “War billig-Fehlgriff”, sondern eher der “ich habe in Qualität investiert und es bereitet mir unendlich viel Freude”.

8 Gedanken zu „Was passiert, wenn Schönheit nicht mehr relevant ist?

  1. Toller Artikel! Ich freue mich immer, wenn ich Deinen Blog besuche, wenn es wieder neue Posts gibt. Ich komme leider viel zu selten dazu, in Ruhe hier zu lesen, wegen Home Office und zuviel Bildschirmzeit insgesamt.
    Die Sache mit der Schönheit sehe ich ähnlich, ich bin 40, habe tolle Haut, lange, dunkle Haare ohne graue Strähnen und bin mit meinem Körper zufrieden. Ich habe viele jüngere Kolleginnen (so Ende 20), die sehen verbraucht aus. Gestresst vom Schönheitsdiktat (Sonnenstudio, Wimpernextension, Gelnägel, etc.). In meinem Beruf gibt es viel Kundenkontakt (AC, Bewerbungsgespräche, …). Es wird also vorausgesetzt, dass frau und man einigermaßen hübsch, gepflegt und modisch sind. Mich stresst das nicht mehr, ich weiß, was mir steht und wie ich mich mit geringstmöglichem Aufwand zurechtmache. Die jungen Kolleginnen müssen das für sich jeweils noch herausfinden, der Prozess ist langwierig und anstrengend und mit Rückschlägen verbunden.
    Trotz allem bin ich optisch immer ein wenig Paradiesvogel geblieben, ich trage meine Haare immer hochgesteckt und dazu auffälligen Haarschmuck. Ist sowas wie mein Markenzeichen geworden. Ich werde auf der Straße oft schräg angeschaut, weil ich halt anders gekleidet bin als die meisten.
    Instagram gibts nur noch in homöopathischen Dosen, die ganze Werbung und der überbordende Konsum stoßen mich ab. Es gibt nur wenige inspirierende Account, Dein Instagram-Account gehört für mich dazu, da folge ich Dir schon echt lange. Und freue mich auch über Deinen Content.

      1. Ich finde Dein Instagram gar nicht langweilig sondern sehr unterhaltsam. Und ich mag die Vasen 🤣

      2. Ja bist Du. Und stupst zum Hinterfragen an; ich rege mich gelegentlich gemeinsam mit Dir auf und stimme Dir oft zu-oder sehe manches anders-auch ok. Mach weiter so 😉

        Bin 44, voll berufstätig und beruflich angekommen. Zeit?!? Die nehme ich mir mehr und mehr. Das genieße ich.
        Hey-ich bin „Gastarbeiterkind“ (ja so hieß das früher ) dh von Sexismus, Rassismus und den ganzen anderen -ismen, von denen Du neulich schriebst, kann ich ein Lied singen. Das hab ich mir verdient 😉

      3. Es wäre definitiv gut auch mal eine Diskussion zu führen, vermutlich machen deswegen alle Podcasts, – aber wie immer bin ich erstaunt, dankbar und glücklich über meine Leserinnen! Euer Licht strahlt auf mich ab quasi.
        Danke…

        Und P.S. das berufliche Leben als Frau ist schon eklig genug, als Ausländerin und das ist man schnell, frau wird so gelesen, ist es nicht besser. Ich werde als DE gelesen und man verleugnet mich einfach-mein Name und meine Identität. Auch blöd.
        Und das ist Jammern auf höchstem Niveau, ich kriege immerhin jede Wohnung.

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